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Was genau eigentlich einen Psychopathen ausmacht, wussten Wissenschaftler lange Zeit nicht. Sogar in einigen Fachbüchern der Psychiatrie sucht man den Begriff und eine Erklärung dazu oftmals vergeblich. Licht ins Dunkel brachte vor allem ein Mann: Robert D. Hare. Der gebürtige Kanadier ist Kriminalpsychologe und entwickelte eine Checkliste für Psychopathen, die insgesamt 20 Punkte umfasst. Auf wen mehr als 75 Prozent dieser Punkte zutreffen, der gilt offiziell als Psychopath. Die meisten Experten halten Psychopathie für angeboren. Und für unheilbar.
Das Bild des Psychopathen, wie er nach Hare definiert ist, klingt abenteuerlich: Psychopathen sind demnach charmant, verlogen, betrügerisch, selbstherrlich, aufbrausend und sexuell untreu. Sie übernehmen keinerlei Verantwortung für das, was sie tun. Doch der wirklich entscheidende Punkt liegt an einer anderen Stelle: Diese Menschen sind nicht dazu in der Lage, Reue oder Mitgefühl mit anderen Menschen zu empfinden. Sie haben buchstäblich kein Gewissen. Dafür besitzen sie etwas anderes im Überfluss: schauspielerisches Talent. Und damit schaffen Psychopathen es meistens mühelos, ihrer Umwelt den mitfühlenden Zeitgenossen vorzuspielen. „Meistens wirkt der typische Psychopath sehr angenehm und hinterlässt einen positiven Eindruck, wenn man ihm zum ersten Mal begegnet“, erklärt der amerikanische Forscher Hervey Cleckley in seinem Buch „The Mask of Sanity“ (Die Maske der Normalität). Diese ist es, die Psychopathen so gefährlich macht.
Ein breites Betätigungsfeld finden Psychopathie-Forscher übrigens im Gefängnis. In Amerika geht man davon aus, dass mindestens ein Drittel aller Insassen echte Psychopathen sind. Geschätzte 50 Prozent aller schweren Gewaltverbrechen gehen auf ihr Konto. Das Klischee vom ultra-brutalen, mitleidlosen Serienkiller ist also keine Erfindung Hollywoods, sondern traurige Realität. Psychopathen töten aus nichtigen Anlässen, und zwar ohne zu zögern. Warum sollten sie auch – sie empfinden ja kein Mitleid.
Doch das echte Pychopathen-Problem spielt sich weder in der Kriminalitäts-Statistik noch im Gefängnis ab. Der deutsche Hirnforscher Niels Bierbaumer ist sich sicher: „Die Wahrscheinlichkeit, dass jeder Mensch einmal im Leben einem Psychopathen begegnet, liegt bei 100 Prozent“. Überdurchschnittlich häufig trifft man diese Menschen in Chefetagen an. Diese Erkenntnis wird von Untersuchungen gestützt, die Robert Hare zusammen mit dem New Yorker Unternehmensberater Paul Babiak durchgeführt hat: In den Führungsetagen von Unternehmen finden sich demnach dreieinhalbmal so viele Psychopathen wie im Durchschnitt der Bevölkerung. In einem Interview mit der Online-Ausgabe der „Zeit“ nannte der Psychologe Jens Hoffmann die Gründe für den Aufstieg so vieler Psychopathen in die Chefetagen: „Sie sind sehr gut im Lügen. Darum sind sie oft auch sozial erfolgreich. Sie können Netzwerke aufbauen, andere stark und schnell begeistern. Sie können andere extrem gut manipulieren. Sie ziehen die Strippen hinter den Kulissen. Oft merken die Manipulierten das überhaupt nicht. Menschen mit einer psychopathischen Persönlichkeit überschätzen sich und lieben in der Regel den Nervenkitzel. Auch sind für sie andere Menschen eher Werkzeuge.“
Stellt sich nur die Frage: Wie wird ein Mensch eigentlich zum Psychopathen? Dazu gibt es mehrere Erklärungsansätze. Der wohl Populärste: Diesen Menschen fehlt die Fähigkeit zum Mitfühlen. Eine Studie allerdings hat noch einen anderen Grund ausgemacht: Forscher der Vanderbilt University in den USA fanden heraus, dass bei Menschen mit krankhaft antisozialem und riskantem Verhalten das Streben nach Belohnung deutlich stärker ausgeprägt ist als das Bewusstsein für Risiko oder die Angst vor Strafe. Eine wesentliche Rolle spielt dabei möglicherweise der Botenstoff Dopamin, der für das Glücksempfinden des Menschen zuständig ist. Das geht aus dem Bericht der Studie hervor, der in der Fachzeitschrift „Nature Neuroscience“ veröffentlicht wurde. In ihrer Untersuchung gingen die Forscher um Joshua Buckholtz der Frage nach, was bei Psychopathen sehr stark ausgeprägt ist. Dazu gehören Erregbarkeit, die Bereitschaft hohe Risiken einzugehen und die Suche nach Belohnung. „Psychopathen sind so stark zu einer Belohnung – dem Zuckerbrot – hingezogen, dass es das Gespür für Gefahr oder Angst vor der Peitsche besiegt“, erklärte der Wissenschaftler und Ko-Autor David Zald. In einem ersten Test wurden Versuchspersonen Amphetamine verabreicht. Die Droge, auch als „Speed“ bekannt, führt wie Kokain, Nikotin und Alkohol im Gehirn zu einer Ausschüttung von Dopamin. Im Gehirn von als Psychopathen eingestuften Probanden wurde als Reaktion auf die Amphetamine fast viermal mehr Dopamin ausgeschüttet als bei den anderen Versuchspersonen.
In einem zweiten Test wurde den Probanden gesagt, sie könnten Geld verdienen, indem sie einfache Aufgaben lösen. Hier konnten die Forscher in der Hirnregion, die mit einer Belohnung über die Ausschüttung von Dopamin in Verbindung gebracht wird, bei den psychopathischen Testpersonen eine sehr viel höhere Aktivität beobachten als bei den anderen Versuchsteilnehmern.
Was den Umgang mit einem Psychopathen besonders schwierig macht ist die Tatsache, dass diese Menschen sich wohlfühlen mit dem, was sie sind und tun. Genau deshalb weigern sich viele Experten, Psychopathie lediglich als eine Persönlichkeitsstörung unter vielen zu betrachten. Denn Psychopathen leiden nicht an ihrem Zustand. Was ist schon schlimm daran, nie von einem schlechten Gewissen geplagt zu werden? Keinen Ängsten ausgesetzt zu sein? Nicht zu leiden, wenn es anderen schlecht geht? Im Gegenteil: In einer ganzen Reihe von Situationen sind Psychopathen gesunden Menschen deutlich überlegen. Nicht zuletzt auch dann, wenn es darum geht, Karriere zu machen. Denn einen echten Psychopathen kümmert es nicht, ob er diese auf dem Rücken anderer Menschen macht. Da Psychopathen aber mit sich und der Welt völlig im Reinen sind, ist es auch nicht leicht, sie zu erkennen. Allerdings kann die Körpersprache ein Indiz sein: Psychologen wissen seit geraumer Zeit, dass Gesten mehr sind als eine harmlose Untermalung unserer Sprache. Offenbar helfen sie unserem Gehirn dabei, die richtigen Worte zu finden. Genau deshalb gestikulieren wir auch schneller und lebendiger, wenn wir uns in einer Fremdsprache unterhalten. Robert Hare hat nun herausgefunden: In genau der gleichen Weise verändert sich plötzlich die Gestik von Psychopathen, wenn sie über Themen sprechen, die eigentlich mit Gefühlen verknüpft sein sollten. Erzählen sie etwa von ihren Eltern, Kindern oder ihrem Partner, klingen ihre Worte zwar warmherzig und gefühlvoll, doch die Körpersprache ist dabei so hektisch und unruhig, als sprächen sie in einer für sie fremden, mühsam erlernten Sprache.
Doch welchen Ratschlag geben Fachleute für den Umgang mit Psychopathen? Vor allem diese: Erstens sollte man sich damit abfinden, dass man diese Sorte Mensch nicht ändern kann. Schlicht deshalb, weil sie selbst keinerlei Grund für eine Veränderung ihres Verhaltens sehen. Darüber hinaus sollte man ihre Gesellschaft so weit wie möglich meiden. Was sicher ein gut gemeinter, aber nicht unbedingt effektiver Ratschlag ist, wenn man einen Psychopathen zum Vorgesetzten hat. In solchen Fällen gilt es vor allem, sich selbst so unangreifbar wie möglich zu machen und vor allem, sich nicht verletzlich zu zeigen. Denn sobald ein Psychopath bei seinem Gegenüber Schwäche wittert, wird er diese gnadenlos ausnutzen.
Das wohl berühmteste Beispiel eines Psychopathen im Berufsleben ist das des amerikanischen Managers Albert Dunlap. Er bedrohte seine Ehefrau mehrfach mit Messern und Handfeuerwaffen, ließ sie oft tagelang ohne Geld und Lebensmittel zu Hause sitzen. Die Ehe wurde schließlich wegen „extremer Grausamkeit“ geschieden. Unter Börsen-Analysten wurde Dunlap zum Star, als er 11.000 Mitarbeiter seiner Firma mit einem einzigen Federstrich feuerte – und den Kurs seiner Aktie damit dramatisch in die Höhe trieb. Dass hinter den beeindruckenden Zahlen schmutziges Frisieren der Bilanzen steckte, bemerkten die Aufsichtsräte erst, als das Unternehmen bereits kurz vor der Pleite stand. Dunlap hatte sich zu diesem Zeitpunkt längst aus der Firma verabschiedet. Seine Kollegen wählten ihn zum „meistgehassten Manager aller Zeiten“. Sein Spitzname „Kettensägen-Al“.
Doch es ist nun nicht so, dass man Psychopathen nur in der Manager-Etage finden würde. Kevin Dutton, Professor für Psychologie an der englischen Universität Oxford hat für sein Buch „Die Weisheit der Psychopathen“ (dtv Verlag) untersucht, welche Eigenschaften der Normalbürger sich von Psychopathen abgucken kann, um im Leben voranzukommen. Dabei fand er auch heraus, dass bestimmte Berufe die Fähigkeiten erfordern, andere Menschen einzuwickeln und unbeeindruckt von Gefühlen klare Entscheidungen zu treffen. Und genau das liegt Psychopathen im Blut. Hinzu kommt, dass einige Berufe auch die Möglichkeit bieten, Autorität über andere auszuüben. Solche Tätigkeitsfelder ziehen natürlich Menschen an, die es genießen, andere zu knechten und herumzukommandieren. Demnach stehen beispielsweise auch Polizisten, Köche und Journalisten auf der Liste derjenigen Berufe, die laut Dutton Psychopathen anziehen. Übrigens: Der Autor belegte mit seinem Werk, das im vergangenen Jahr in Deutschland erschien, einen der vorderen Plätze auf der Bestsellerliste des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ … Im April diesen Jahres ist übrigens ein weiteres Buch zum Thema erschienen: „Die Psychopathen unter uns“. Geschrieben hat es Joe Navarro – Agent beim FBI.
Von Andrea Abrell