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• Richard, Sie kommen aus dem Stadtteil Hackney am Ostende von London. War Musik schon immer Teil ihres Lebens?
Nein, ich wuchs in einer Gegend auf, in der es damals viele Maurer und Handwerker gab. Mit einer Gitarre herumzulaufen, galt dort eher als Zeichen von Schwäche, es sei denn du warst im Fernsehen. Jeder Fish & Chips Budenbesitzer fuhr einen Rolls Royce. Nicht unbedingt, weil er es sich leisten konnte, sondern weil er dadurch den anderen zeigen konnte, dass er es geschafft hat. Meine Mutter starb, als ich erst sieben Jahre alt war. Meine beiden Brüder waren über 15 Jahre älter und mein Vater schon über 60. Er arbeitete hart als Möbelschreiner und das Einzige, was er bis dahin gekocht hatte, war Tee. Er verließ morgens um sechs Uhr das Haus und kam zwölf Stunden später wieder. Wenn er nach Hause kam, versuchte er mir etwas zu essen aus der Tüte warm zu machen. Dann saß er abends im Wohnzimmer in seinem Sessel und schlief bei „Bonanza“ oder „Startreck“ ein. Ich musste ihn aufwecken, um ins Bett zu gehen. Am Wochenende war er viel zu müde, um etwas zu unternehmen. Ich wusste schon als zehnjähriges Kind, dass es noch ein anderes Leben geben müsste – ich wusste, ich würde anders leben. Sehr wichtig waren für mich die Bücher über die Beat-Generation. „Unterwegs“ von dem amerikanischen Autor John Kerouac und die Autobiografie des Folk-Musikers Woody Guthrie „Bound for glory“. Letzterer ist vor allem für sein Lied „This Land is your land – this land is my land“ bekannt geworden. In beiden Büchern fand ich Inspiration, denn sie zeigten mir, dass es tatsächlich eine andere Art zu leben gab. Zu diesem Zeitpunkt spielte ich schon Gitarre. Meine Brüder hatten mich, nach dem Tod meiner Mutter, dazu ermutigt. Ich habe nie Stunden genommen oder einen Lehrer gehabt. Eigentlich weiß ich gar nicht, wie ich es gelernt habe. Auf einmal konnte ich es. Schon als Teenager mit circa 14 Jahren war ich selbstständig. Ich trampte zur Küste und suchte nach Lkw-Fahrern, die mich mit über den Kanal nahmen. Sie durften damals noch kostenlos Passagiere von England nach Frankreich mitnehmen. In Frankreich machte ich mich auf in Richtung Süden. Ich setzte mich hin und spielte. Ich verdiente genug, um mir etwas zu essen und zu trinken kaufen und mir einen Platz zum Schlafen besorgen zu können. Straßenmusik ist nach Prostitution der zweitälteste Beruf der Welt. Seit 40 Jahren spiele ich gerne auf der Straße. Ich habe zum Beispiel schon Konzerte in der Philharmonie in Berlin gehabt und mich am nächsten Tag auf die Straße gesetzt, um für ein paar Münzen zu spielen. Ich liebe den direkten Kontakt mit der Musik und den Moment des Verstehens, wenn Fremde mir ein paar Cents zuwerfen.
• Heute blicken Sie auf eine erfolgreiche Karriere zurück. Welche Idole haben Sie geprägt und begleitet?
Musiker, die mich in meiner Jugend inspirierten, waren zum Beispiel Charley Patton, Blind Boy Fuller, Blind Lemon Jefferson, Blind Willie McTell, Big Bill Broonzy, Sonny Terry & Brownie Mcghee und Josh White, mit dessen Sohn ich bis heute auftrete. Am Anfang spielte ich gerne Folkmusik. Mich begeisterte der schottische „Fingerpicker“ Bert Jansch, der mein liebster Gitarrenspieler ist. Anfangs sang ich oft in Bars. Dort war es laut und die Menschen hörten nicht wirklich zu. Deshalb wechselte ich bald in die Richtung des Blues. Das eignete sich besser als Hintergrundmusik. Ich entdeckte mein Talent für das Songwriting schon mit 13 Jahren und habe über 200 eigene Lieder geschrieben. Ich schätze Musiker wie Wolf Biermann und Bob Dylan, den ich persönlich kenne. Nach 40 Jahren habe ich ein Soloalbum mit Dylan-Songs herausgebracht. Ich freute mich über Kritiken, die es als beste Bob-Dylan-Kollektion bezeichneten, die von einem Künstler (außer ihm selbst) veröffentlicht wurde. Wenn ich mir überlege, wie viele Künstler Lieder von ihm gecovert haben, macht mich dieses Lob sehr stolz. Der Blues hat mich schon immer wegen seiner Authentizität berührt. In diesen Liedern beschreiben die Menschen, wie ihr Leben aussieht.
Auch nach der Abschaffung der Sklaverei gab es in den USA sehr viel Diskriminierung. Es gab so viel Rassismus, selbst noch zu meinen Lebzeiten. Ich bewundere den wunderbaren Produzenten John Hammond, der Bessie Smith oder Billy Holiday und als Erster Bob Dylan herausgebracht hat. Auch die großen Folkloristen John & Alan Lomax, Leonard Chess von Chess Records und den großen „Schmiergeld-Brecher“ Allan Freed. Diese Menschen waren Juden aus der Mittelklasse. Persönlich habe ich es immer bedauert, dass ich nicht alt genug bin, um jemals Mississippi John Hurt (starb 1966) live erlebt zu haben. Vor einigen Jahren habe ich sein Grab in Avalon (Mississippi) besucht. Später (1984) trat ich auf einer Tournee mit Bob Dylan, Santana und Joan Baez (für die ich die zweite Gitarre spielte) auf. Ich bin ein Vollblutmusiker, aber ich bin auch ein ganz normaler Mensch, ohne Starallüren. Es macht mir nichts aus, mit anderen Musikern „als zweite Geige“ auf der Bühne zu stehen und einfach nur meine Gitarre zu spielen. Wie zum Beispiel, wenn ich mit Josh White jr. auftrete. Es macht mir genauso Freude, wie meine Soloauftritte mit meinen eigenen Stücken. Ich hatte nie Probleme mit Musikerkollegen, egal ob groß oder klein, bekannt oder unbekannt waren oder sind.
• Auf ihrem Album „Crony“ haben sie einen Song speziell Amy Whinehouse gewidmet. Warum?
Ich halte nicht allzu viel von der modernen Musik und von aktuellen Stars, die durch Talentshows groß werden. Das sind oft nur gute Sänger, aber wo sind die Musiker? Sie werden zu schnell groß und TV-Stars. Ich finde das schrecklich. Selbst die Rolling Stones spielten jahrelang in Bars, ehe sie berühmt wurden. Klein anzufangen, ist Vergangenheit. Amy Winehouse kannte ich nicht. Als ich von ihrem Tod erfuhr, war ich gerade auf Konzertreise in Deutschland. In den Sendungen zu ihrem Nachruf hörte ich ihre Stimme zum ersten Mal und fand sie grandios. Ich habe es so bedauert, dass ich sie nie kennengelernt und live erlebt habe. Ich hörte die ganze Nacht lang ihre Musik auf Youtube und die meiste Zeit rannen mir Tränen über die Wangen. Das Album „Crony“ entstand in Verbindung mit der Amy Whitehouse Foundation, die ihr Vater ins Leben rief. Und der Song „Never heard you sing before you died“, den ich für sie geschrieben habe, spricht für sich selbst.
• Sie sind Jude und auch das fließt in ihr Schaffen ein. Es gibt sogar ein jiddisches Album „Ikh vel nisht fargesn“. Warum?
Dieses Album ist die Geschichte der jüdischen Population in Fürth in Bayern, wo ich viele Jahre gelebt habe. Es erzählt von der Kristallnacht bis zu den Deportationen 1942. Ich habe es einem Menschen gewidmet, vor dem ich großen Respekt habe: Dr. Isaac Moses Hallemann. Dieser Mann war Lehrer und Direktor des jüdischen Kinderheims in Fürth. Übrigens: das älteste in Deutschland. Hallemann kann in allen Bereichen mit dem weltbekannten Janos Korczak verglichen werden, der das Waisenhaus in Warschau leitete. Er nährte, liebte und lehrte die Kinder in seiner Obhut, obwohl er wusste, dass es keinen Ausweg gab. Er opferte sein Leben sowie das seiner Frau und seiner beiden jüngsten Kinder. Sie wurden zusammen mit allen Kindern nach Izbica und später ins Vernichtungslager Belec deportiert. Keiner von ihnen kam von dort zurück. Jeder Überlebende oder Nachkomme derjenigen, die die unglaublichen Gräueltaten dieser Zeit miterlebt haben, ist sich in einem Punkt sicher: So etwas darf es nie wieder geben. Deshalb ist es wichtig, dass die Menschen wissen, was damals geschehen ist und es darf niemals vergessen werden. Was mich an dem Erstarken des Faschismus (nichts anderes ist der aktuelle Populismus) in Amerika und Europa in der jüngsten Vergangenheit besorgt, sind nicht die Faschisten selbst. Es gab schon immer schlechte Menschen. Viel beängstigender finde ich, dass so viele „normale“ Menschen sich sicher genug fühlen, um faschistische Parolen und Diskriminierungen offen auszusprechen. Es gibt keine Unterschied zwischen Diskriminierung von Schwarzen, Juden, Christen oder Moslems oder ob die Menschen aus Osteuropa, dem mittleren Osten, Indien oder Afrika kommen. Menschen, die aus Kriegsgebieten fliehen, müssen überall aufgenommen werden. Nationalsozialismus hat es schon immer gegeben, sogar in Großbritannien. Ich haben einen Freund, der in der Hauptbibliothek in Nürnberg arbeitete. Seine Aufgabe war es, das Durcheinander im Keller der Bibliothek aufzuräumen. Über den Boden verteilt waren die wichtigsten jüdischen Bücher, die Bibel, Torah, Gebetsbücher und dazwischen tausende Exemplare von „Der Stürmer“ (Nazipropaganda), faschistische Bücher und Pamphlete in verschiedenen Sprachen, die bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zurückgingen. Ich selbst habe Hasstiraden britischer Nationalsozialisten aus dem Jahre 1911 gelesen. In diesen Büchern waren Worte unterstrichen. Die deutschen Nazis haben diese Lektüre studiert. Weshalb wohl?
• Waren Sie selbst schon einmal von Diskriminierung betroffen?
Tatsächlich gab es einmal eine Morddrohung gegen mich, als ich ein Konzert in Nürnberg geben sollte. Plötzlich war die Polizei da und teilte mir mit, es gäbe eine ernst zu nehmende Drohung, dass ich umgebracht werden sollte. Als Lösung schlugen sie vor, sich in Zivil unters Publikum zu mischen. Das war köstlich – ich sah von der Bühne aus genau, wer die Polizisten waren. Sie blickten so auffällig in alle Richtungen, meine Musik interessierte sie überhaupt nicht. Aber es ist nichts geschehen und alles endete gut. Ein fränkischer CSU-Politiker in Fürth nahm mich einmal beiseite und erklärte mir auf eine ruhige Art, dass er nichts gegen Ausländer habe, nur die Türken könnte er nicht aushalten. „Sie sind doch davon nicht betroffen, sie sind ja Engländer“. Ich habe ihm nicht gesagt, dass ich Jude bin. Sogar in einem Land wie Polen, wo mein Bruder mit seiner Familie lebt, wo 95 Prozent der Bevölkerung Polen sind, gibt es Diskriminierung. Diese Menschen finden immer Gründe, andere zu diskriminieren. Sie sind schwach, gebrechlich, groß, klein. Die Menschen, und zwar alle, müssen endlich begreifen, dass kein Menschenleben mehr wert ist, als ein anderes. Nur dann hört Diskriminierung auf.
• Richard, Sie halten sich inzwischen regelmäßig auf Teneriffa auf. Wird man sie auch hier einmal hören können? Und was sind Ihre Pläne?
Ich wäre jederzeit gerne bereit, auch auf Teneriffa zu spielen. Geld ist nicht das Thema – ich weiß, dass hier weniger gezahlt wird. Vielmehr geht es mir um ein Publikum, das mir zuhört. Ich bin zu alt, um für Menschen zu spielen, die meine Musik nicht wirklich interessiert. Wenn es Veranstalter oder Geschäftsleute gibt, die gerne möchten, dass ich bei ihnen auftrete, tue ich das sehr gerne. Außerdem möchte ich gerne Bücher schreiben. Viele Leute sagen mir: Ich habe ein ganzes Buch in mir. Ich sage: Ich habe mindestens 20 Bücher in mir. Vielleicht kann ich hier am Strand von Teneriffa wie Ernest Hemingway sein.
Richard, in diesem Sinne, wünschen wir Ihnen viel Erfolg und würden uns freuen, wenn man Sie auf Teneriffa hören könnte.
Wer mit Richard Smerin Kontakt aufnehmen möchte, kann sich via Facebook oder direkt über die Telefonnummer 669 441 330 oder Email richardsmerin@hotmail.com an ihn wenden. In seine Alben können Interessierte über seine Webseite www.richardsmerin.com hineinhören und CDs auch bestellen.
Von Sabine Virgin